Der Betriebsseelsorger Matthias Schneider referierte im Gemeindesaal von Sankt Andreas über Prekarisierung. Aber was ist das eigentlich? Zunächst ganz neutral definiert: Rückgang von Normalverhältnissen und Zunahme atypischer Beschäftigung. Reduzierte Arbeitszeit kann ein freiwillig gewählter alternativer Lebensentwurf sein (allerdings mit der Gefahr von Altersarmut), umfasst dann aber auch den in Deutschland extrem großen Niedriglohnsektor, unbezahlte oder schlecht bezahlte Praktika, z. B. an den Universitäten und geht bis zur Ausbeutung in der Landwirtschaft (Saisonarbeiter in der Spargel- und Erdbeerernte), der Logistik (Paketzustellung, LKW-Transporte) oder der Gastronomie. Diese unsichere Beschäftigungssituation erlaubt keine Zukunftsplanung, reduziert gesellschaftliche Teilhabe (kein Urlaub, kein Sport für die Kinder, finanzielle Probleme, Verschuldung, Einsamkeit) und schafft in letzter Konsequenz gesellschaftlich abgehängte Milieus, die sich von der Demokratie verabschieden. Die Paradoxie dabei: Deutschland hat auf der anderen Seite einen extremen Fachkräftemangel, der unsere wirtschaftliche Entwicklung gefährdet.
Können wir uns diese paradoxe Situation leisten beziehungsweise was können wir gegen diese Missstände tun? Wo setzen wir an? Diese Fragen wurden in der von der Sprecherin des Arbeitskreises „Christen und SPD“, Angela Madaus, moderierten Diskussion mit dem evangelischen Wirtschafts- und Sozialpfarrer Gscheidle, den Landtagsabgeordneten Dorothea Kliche-Behnke (SPD), Manuel Hailfinger (CDU) und Thomas Poreski (Grüne) und dem Publikum nach allen Richtungen diskutiert. Zusammenfassung: Soziales und ökologisches Verhalten muss sich lohnen, in einer Marktwirtschaft geht das nur über den Preis. Eine soziale Marktwirtschaft muss jedoch für soziale Verwerfungen einen Ausgleich schaffen. So weit, so gut! Aber wo bleibt die Verantwortlichkeit, auch des Einzelnen? Was heißt das konkret für uns, als Gesellschaft und als Kirche? Letztlich geht es doch wohl darum, unser Konsumverhalten zu überdenken, unseren libertären Freiheitsbegriff zu hinterfragen und ihn mit Solidarität zusammen zu denken und nicht alles auf „die Politik“ abzuschieben.
Klar: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, z.B. durch das Fachkräftezuwanderungsgesetz und die grundgesetzlich geschützte Tarifautonomie, wonach Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen autonom versuchen, einvernehmlich einen Ausgleich zwischen beiden Seiten zu schaffen. Aber: Viele Arbeitnehmer sind tariflich gar nicht vertreten und die vulnerablen Gruppen haben trotz gesetzlicher Regelungen, wie allseits bekannt, keinen Schutz, weil die dafür nötigen Kontrollstellen unterbesetzt sind. Sie müssten sich kollektiv zusammenschließen können, was ihnen aber ohne externe Hilfe nicht gelingen wird. Hilfestellen bieten durchaus kirchliche Gruppen an, z.B. Vertreter der Kirchen auf den Parkplätzen, wenn sie mit Lastwagenfahrern sprechen, ihnen Unterstützung anbieten oder Prostituierten beim Ausstieg helfen!
Wir alle sind gefordert, das Unsere zu tun. Packen wir es an! Angela Madaus. 25.4.2023